Freitag, 16. Oktober 2009

Thema verfehlt, 6

In der Schule hatte ich manchmal schlechte Noten. Eigentlich ziemlich oft sogar, und irgendwann gewöhnt man sich daran. Aber die, die bis zum Ende und am meisten weh getan haben, waren die Deutschaufsätze, unter denen stand: »Thema verfehlt, 6«.

Deshalb gehe ich heute auch nicht zu Klausureinsichten (die sind ja freiwillig), weil ich Angst habe, dass das an der Uni weiter verwendet wird. Ich weiß es aber eben nicht.

Warum ich daran denke? Weil heute Freitag ist, und freitags ist immer Konferenz. Dann sitzen wir hier zusammen und picken uns Themen aus dem überbordenden Angebot dieser Stadt. Natürlich picken wir nicht nur, was uns gefällt, sondern wir antizipieren die Erwartungshaltung der Leser und versuchen, ihnen gerecht zu werden.
Dann fragen wir uns: Wollen sie das lesen? Finden sie das aufregend? Klicken sie uns? Der Leser ist der Lehrer, und wir die Schüler, die versuchen, das Thema nicht zu verfehlen.

Natürlich gäbe (und gibt!) es einen ganz einfachen Indikator, unsere Treffsicherheit zu überprüfen: Die Statistiken! Aber die werden zurückgehalten, von den Inhabern, vielleicht um uns zu schonen. Die dürfen wir nicht sehen. Nur manchmal, bei Videos, dann zeigt Jockel uns, wie die Aufmerksamkeitskurve der Zuschauer nach 20 Sekunden abknickt. Das sieht dann immer aus wie Börsenkurse von 1929. Deshalb macht Johannes jetzt immer schnellere Schnitte, ich glaube, er fühlt sich auch unter Druck gesetzt.

Ich jedenfalls tue das. Und deshalb habe ich mich heute entschlossen, mich unter das Volk zu mischen, denn das Volk, das sind die Leser und die Leser hängen alle hier rum, vor der Tür, am Bahnhof. Ich habe mich also auch mal rumgetrieben, auf dem Bahnhofsvorplatz, und wollte aufsaugen, was die Themen sind, die interessieren, wie ein Themenseismograph.

Aber die reden nicht. Wirklich. Ich habe ihnen 20 Minuten gegeben, mein Route startete am Café Lecca, führte durch das Eckbistro über den Bussteig in die Bahnhofshalle und wieder raus. Bei jeder Traube von Menschen blieb ich unauffällig stehen und wollte hören, was die so reden: Vielleicht über die Faust-Premiere, oder die Neu-Eröffnung von »KulturGut«, oder wenigstens das Pokalspiel (alles auf unserer kleinen Seite!). Aber nichts, gar nichts. Die reden einfach überhaupt nicht. Das ist vernichtend, nicht nur für die Rezeption unseres redaktionellen Angebots, sondern auch gesamtgesellschaftlich.

Vor kurzem war ich zufällig in einem Altenheim, und da gab es einen unglaublich alten Mann, lasst ihn 100 gewesen sein. Und weil er so alt war, und ich noch so jung, habe ich ihn gefragt, was das denn eigentlich für eine Zeit ist, in der wir heute leben. Er kann da ja besser vergleichen. Und da sagt er: »Ist keine Zeit mehr, ist nur kalt«. Und dass er froh sei, nicht mehr so lange hier leben zu müssen. Ist das nicht schrecklich?

Ich weiß jetzt gar nicht, wie ich aus dieser verfahrenen Situation jetzt wieder rauskommen soll. Der Blog soll ja fröhlich sein. Vielleicht sind die Bahnhofrumhänger auch einfach nicht repräsentativ. Vielleicht sitzt genau jetzt ein junges, gutaussehendes, aufstrebendes Mädchen bei 30° C auf einer Viehmarkt-Terrasse, trinkt Latte Macchiato und erzählt ihrer Freundin ganz aufgeregt, was heute wieder auf hunderttausend.de stand. Und dass es sich allein schon deshalb lohnt, zu leben. Hier, in dieser Stadt, in dieser Zeit. Das wäre das Mindeste.

1 Kommentar:

  1. Anonym23.10.09

    Ach was, ist ja alles viel zu negativ. Und dass du eine 6 in einem Deutschaufsatz bekommen hast, glaubt dir sowieso keiner.

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