Leser mit Taktgefühl spüren, dass dieser Beitrag schon vor einigen Tagen erwartet war. Ich habe es nicht früher geschafft. Ich habe mir lange überlegt, wie ich mit dieser Schuld umgehen soll, dann habe ich mich für Offenheit entschieden.
Nicht, um mein Schuldbewusstsein zu mindern, sondern um ein Thema anzusprechen, das einmal angesprochen werden sollte: Konzentrationsschwäche und ihre Ursachen. Haben alle, redet aber keiner drüber; man muss ja immer funktionieren. Ich funktioniere gerade nicht, und ich glaube auch zu wissen, warum.
Die Anfänge reichen zurück bis zu einem Abend vor etwa einem Jahr, die Redaktion traf sich auf einen Umtrunk, im Februar 2009. Schön war es, doch meine Erinnerung wird überschattet von dem schwerwiegenden Fehler, dem Redakteur D. mein Fahrrad geliehen zu haben. Dann war es weg, verschwunden aus einem Hinterhof im Bahnhofsviertel.
Die meiste Zeit führe ich seitdem ein ganz unauffälliges Leben. Ich studiere, ich arbeite, und würde man mich auf der Straße sehen, man würde nicht vermuten, welches Loch dieser Abend in mein Herz gerissen hat.
Erst, wenn ich wirklich viel zu tun habe, wütet der Verlust in meinem Leben. Dann, wenn ich konzentriert und effizient arbeiten müsste, dann suche ich nämlich nachts mein Fahrrad. Im Internet. „Hercules“, „Alassio“ und „grün“ sind meine Suchbegriffe, google hat sie schon als Vorschläge gespeichert. Ich jage sie durch alle Auktionsplattformen und Fundbürodatenbanken Deutschlands – nichts. Dann geht irgendwann die Sonne auf, die ersten Busse fahren am Fenster vorbei und ich bin traurig.
Ich höre schon die Rufe: Du bist materialistisch! An Dingen hängt man nicht! Das ist pietätlos! Das stimmt ja alles, aber es stimmt auch irgendwie nicht. Denn man soll zwar nicht Dingen hängen, aber doch wohl an Werten, und an Erinnerungen. Und all das Gute und Schöne, woran ich je geglaubt habe, manifestiert sich in der Gestalt dieses Fahrrads.
Als mein Großvater einst diese Perfektion menschlicher Schaffenskraft aus einem staubigen Kellerloch zog und sagte: „Jetzt soll es dir gehören“, wusste ich: Von nun an würden wir alles gemeinsam tun, uns umeinander kümmern und Acht geben, dass uns nichts Böses geschieht.
Und so war es dann auch, wir zogen nach Trier, schwebten durch die Straßen und Menschen mussten lächeln, wenn wir an ihnen vorbeizogen: Wir waren jung, erfolgreich und zusammen, die Welt gehörte uns.
Als es weg war, habe ich überall weinend nach ihm gesucht, ich konnte es nicht finden. Zwischenzeitlich hatte ich andere Räder, sicherlich, aber mit ihnen konnte ich nicht schweben. Es waren Zweckbeziehungen, wir bewegten uns zwar fort, aber die Magie war verschwunden.
Jetzt kommt der Frühling wieder, und der Verlust jährt sich zum ersten Mal. Ich müsste eigentlich sehr viel arbeiten, aber die Nächte verbringe ich damit, nach dem Fahrrad zu suchen. Freunde machen sich Sorgen, sie sagen: Kauf dir doch ein neues grünes Fahrrad. Sie haben nichts verstanden - Ich kann so nicht arbeiten.
Wenn ihr es seht, bringt ihr es mir zurück?
Dienstag, 30. März 2010
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Mein herzliches Beileid. Wirklich. Ich kann deinen Schmerz nachvollziehen.Ging es bei mir nicht um ein Fahrrad, sondern um einen Roller, so verstehe ich deine Gedankengänge. Meinen kleinen habe ich gefunden, jedoch sein Zustand war erbärmlich. Fast zerlegt, von diesen Monstern einen Weinberg hinuntergestoßen. Mögen all die, die stehlen, nie wieder Brot essen oder Whiskey trinken.
AntwortenLöschenMein altes grünes Familienerbstück-Fahrrad wurde auch gestohlen und ward nimmer gesehn :-(
AntwortenLöschenWerde es auch niemals vergessen... ist einfach nicht zu ersetzen!
Es ist ein Wunder, aber es ist wieder da. Du hast es geschafft, durch neurotische Suche und Beharrlichkeit. Der Verlust hat Dir Schmerz bereitet, und diesen wunderschönen Text. Und nun ist es wieder da. Ich weiß, ich kann Dein Glück nicht fassen. Aber ein wenig teilen. Jederzeit gerne!
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