Samstag, 12. Juni 2010

Erste Einblicke einer Zwischenlösung

Der Blick von außen bietet manchmal interessante Einsichten. Nicht umsonst definieren sich alle menschlichen Erdenbewohner vor allem über die Wahrnehmung durch ihre Artgenossen. So startete mit Beginn meiner Interimstätigkeit in den heiligen Hallen von hunderttausend.de für mich am 26. Mai die Mission “Reinschnuppern“. Und wie es der Zufall so will, las ich just zu jener Zeit ein zutiefst interessantes Büchlein mit dem Titel "Die taz – Eine Zeitung als Lebensform." Der Autor Jörg Magenau erzählt darin die Geschichte der ursprünglich linksalternativen und heute großbürgerlichen Tageszeitung aus Berlin.

Was bei der Lektüre direkt auffiel, waren die unvermutet zahlreichen Parallelen innerhalb der mittlerweile mehr als dreißigjährigen Historie dieser Gazette zu Triers prominentem Eventportal. Eines der ersten gemeinsamen Grundmerkmale beider Medien findet sich bereits auf Seite 22: „Die Einzelnen gaben sich persönlich und verschwanden gleichzeitig in der Anonymität einer familiär erscheinenden Gruppe. Man betonte das subjektive Gefühl und duckte sich weg ins Kollektiv.“ Besser könnte auch meine Wenigkeit den im Journalismus doch recht unüblichen Umstand beschreiben, dass bei hunderttausend zwar Vor- und Nachname des Autors unter den Magazin-Artikeln stehen, gleichzeitig aber auch das Kürzel des redigierenden Redakteurs erscheint. Hier lässt man die kollektiv geteilte Verantwortung noch hochleben!

Was mit dem auf gleicher Seite erwähnten „diffusen Zärtlichkeitsbedürfnis“ gemeint ist, erschloss sich mir erfreulicherweise schon in den ersten Tagen. Ob nun die “High Five“-Vorliebe Kathrins oder Tareks ausnehmend kräftiges Rückenstreichen: Die Truppe hier ist ein echt herzlicher Haufen!

Die Themenfindung läuft bei der taz fair ab, wie Seite 100 nahe legt: „Das ist, immer wieder, das Schöne an der taz. Es reicht aus, etwas toll zu finden, um es dann auch zu machen. Es müssen sich nur ein paar Entschlossene finden, dann ist (fast) alles möglich.“ Nicht anders verhält es sich bei hunderttausend, wenn man “fair“ im Sinne von “Wer am lautesten brüllt, gewinnt“ versteht. Eindrucksvoll zeigt dies eine äußerst charmante Rundmail Kathrins vom vergangenen Freitag, als wir uns gemeinsam über den baldigen Auftritt des verehrenswerten Rainald Grebe in der Tufa freuten und die journalistische Verarbeitung desselbigen unter uns aufteilten: „Christian, hier neben mir, hat sich gerade Herrn Jörickes Erlaubnis eingeholt, für die Review. Und wenn ich nicht auch sofort eine Erlaubnis bekomme, für das Interview, werde ich zurückfallen in alte Muster, als es zu viele Geschwister und zu wenig Essen gab.“

Auch eine Wiederspiegelung der Arbeitsweise des Chefs vom Dienst taucht im Buch auf. Eine Sentenz auf Seite 108 nämlich unterstellt der taz einen offenen „Antiintellektualismus“. Wie deutlich klingen mir da Johannesʾ vehemente Instruktionen nach meinen ersten Schreibversuchen noch immer im Ohr: „Formulier einfacher, keine langen Sätze und keine doppelten Verneinungen!“ Wer weiß, dass Herr Friedrich Philosophie studiert und seinen Kant aus dem Effeff kennt, wird auch diese Aussage Magenaus auf den hiesigen Redaktionsalltag übertragen können: „Der Antiintellektualismus in der taz wird auch dadurch nicht besser, dass er, wie sein proletarisch-revolutionärer Urahn, selbst ein Produkt von Intellektuellen ist.“

Eine wichtige Institution, die mir glücklicherweise vor Dienstantritt jemand geflüstert hatte und eine wesentliche Entscheidungshilfe für mein Anheuern war, ist das so genannte “Redaktionsbier.“ Da kam es zu einem echten “Verleser“ bei mir. Auf Seite 131 nämlich glaubte ich zu entziffern: „Alle waren extrem besoffen und haben gerockt“, wo doch in Wahrheit stand: „Alle waren extrem betroffen und geschockt.“

Nichtsdestotrotz ist es schlussendlich wohl der Begriff „alternative Bürgerlichkeit“ (S. 235), der die hunderttausend-Atmosphäre am treffendsten charakterisiert: flache Hierarchien, humaner Umgang und Basisdemokratie bei den Redaktionssitzungen, aber summa summarum sagt natürlich trotzdem der große Capitano, wo der Hase lang läuft.

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