Ich lese sehr gerne. Im Moment gehört zu meiner liebsten Unterhaltungsliteratur die Korrespondenz zwischen uns und den Nutzern des Kleinanzeigenmarktes. Denn die bei Jung und Alt beliebte hunderttausend.de-Rubrik ist im Wandel. Um alles besser, schöner und gerechter zu machen, schält sich der Kleinanzeigenmarkt aus seinem alten Schuppengewand um frischgeputzt und sauber in die Sonne zu blinzeln.
Eine eigens abgestellte Schnelleinsatzgruppe sorgt sich nun mit viel Geduld darum, dass alle Teilnehmer sich an die Spielregeln halten: Sie löschen doppelte Einträge, sie achten auf die Etikette und trennen säuberlich die gewerblichen von den privaten Anbietern. Das ist wichtig, weil es gerecht ist. Seit es diese Einsatzgruppe gibt, fühle ich mich sicherer in Deutschland.
Doch Zeiten des Umbruchs sind meist etwas rumpelig, da die Routine der Nutzung rüde abgeschnitten wird von dem Zwang, sich wirklich an die Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu halten. In diesem Zusammenhang wird uns in letzter Zeit wieder verstärkt vor Augen geführt, wie brüchig die vermeintliche Anonymität ist. Und siehe da: es sind Menschen, die sich hinter den Anzeigen verbergen.
Manchmal, wenn ich an freien Nachmittagen ausgedehnte Spaziergänge durch die Landschaften des Kleinanzeigenmarktes unternommen habe (wäre er eine Landschaft, er wäre eine Schrebergartensiedlung), sah ich es schon ab und an im Augenwinkel menschlich flackern. Selten allerdings, nur bei Anzeigen die von der standardisierten Norm abwichen. Besonders traurige zum Beispiel, wie etwa:
"Suche nette Sie um die 40 für gemeinsame Unternehmungen am Wochenende wie Essen gehen, Reden, Natur - und Kulturerlebnisse, Kino u.v.m. . Bin 47, 1,80 , dunkelhaarig, war früher gut aussehend und kann leider nicht tanzen."
Seitdem im Kleinanzeigenmarkt umgebaut wird, erreichen uns echte persönliche Nachrichten von den Nutzern. Natürlich dürfen an dieser Stelle keine Korrespondenzen veröffentlicht werden, aber ignorieren kann ich die literarischen und unterhaltenden Inhalte auch nicht, die sich langsam im Briefkasten türmen.
Unter den vielen guten, verständnisvollen Nutzern, die wir haben, gibt es nämlich auch freche, uneinsichtige, die nicht hören wollen, wenn die Eingreiftruppe ihnen sagt, dass es nicht okay ist, wenn sie ihre Flannellbettwäsche 37 mal hintereinander einstellen. Wegen der anderen Nutzer, die heute vielleicht etwas anderes suchen.
Die Konfrontation, die sich aus diesem Sachverhalt ergibt, ist einfach – ich kann es nicht anders sagen – ein Knaller; denn wenn man hinter die oberflächliche Fassade aus Beschimpfungen blickt, offenbart sich ein literaturwissenschaftlich interessanter Stil-Pool. Vom stürmisch-drängenden Schimpfwortgebrauch (wie zu erwarten) reicht das Spektrum bis hin zu distopisch-resignierendem Hauptsatz-Staccato, das Cormac McCarthy in nichts nachsteht.
Ich möchte ein anonymisiertes, leicht verfremdetes Beispiel nennen:
„anzeige weg. warum tut ihr das. ich verstehe das nicht. verstehe nichts mehr. was habe ich falsch gemacht. einfach nicht angezeigt. warum tut ihr das.“
Ich lese diese Sätze und sehe das gebeugte Haupt, die leeren Augen, die belegte Stimme. Ich sehe vor mir einen Mann mittleren Alters, der alles verloren hat, was ihm wichtig war. Frau weg, Kinder weg, Wohnung leer. Alles, was er noch hat, ist ein Set Flannellbettwäsche – und das wird er einfach nicht los.
Wenn dieser Kleinanzeigenmarkt nicht das Wort Gottes ist, dann hat Gott nie gesprochen.
Das sieht für mich ganz klar nach einem Missbrauch eurer (quasi)Monopolstellung aus. Die armen Leute sind eurer Willkür schutzlos auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Meistens kommen doppelte Anzeigen zustande, weil die Leute wie die Irren auf den Submit-Button klicken. Das ist mir auch schon passiert. :D Das kann man doch ganz leicht mit ein wenig JavaScript unterbinden.
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