Freitag, 29. Oktober 2010

Die Leiden des jungen Sisyphos

Ach.

Im Herbst werden alle Menschen traurig, in Trier ganz besonders und innerhalb von Trier ganz besonders wir. Seit einigen Wochen reden wir kaum noch, sondern geben zu Tode betrübt die Veranstaltungen in den Kalender ein. Ein Kalender, der immer weiterläuft, und wir rennen hinterher. Wir sind Sisyphos, aber man kann sich uns nicht als glückliche Menschen vorstellen: wir erschaffen, um verschwinden zu lassen, das geht an keinem fühlenden Menschen spurlos vorbei "Ist doch alles egal", denken wir dann niedergeschlagen, "nichts ist so alt wie die Veranstaltung von gestern". Zeitungsmacher müsste man sein, dann hätte man etwas in der Hand, zum Fischeinwickeln, Fliegenfangen, Feuer machen. Etwas zum Anfassen und Liebhaben.

Wir haben eine 60-Stunden-Woche, aber wenn wir am Sonntag zurückblicken, ist dort nichts, was wir greifen können; unsere Arbeit ist ein Hirngespinst, gefüttert und genährt mit den Stunden unserer Jugend. Für jeden Startseitentipp, den wir anlegen, vergessen wir einen Traum.

Selbst die geschundenen Fabrikarbeiter im Manchester des 19. Jahrhunderts hatten am Sonntag etwas, worauf sie zurückblicken konnten. Einen Stahlträger zum Beispiel, den sie kraft ihrer hornhautigen Hände erschaffen hatten, aus dem Nichts. Zum Anfassen und Liebhaben. Wahrscheinlich mussten sie in Manchester auch sonntags arbeiten und hatten überhaupt keine Zeit, zurückzublicken. Aber trotzdem sehe ich den Stahlarbeiter vor mir, der im Sonnenuntergangslicht des Feierabends sanft die Oberfläche eines Stahlträgers streichelt, viel sanfter, als man es von seinen schwieligen Stahlarbeiterhänden vermuten würde, und denkt: Durch diesen Stahlträger werde ich ewig leben.

Ach.

Seit Wochen blicken wir aus dem Fenster und sehen nichts außer Bäumen, die langsam ihre Blätter verlieren. Auf Youtube haben wir den Chopin-Kanal abonniert, der nur den Trauermarsch und Nocturnes in Moll spielt. Manchmal erinnern wir uns an den Frühling, als wir uns aufgeregt an den Händen hielten und den Knospen beim Sprießen zusahen. Die Erinnerung daran tut so weh, dass wir uns mit Arbeit betäuben müssen.

Vor einigen Wochen hat man versucht, uns zu überraschen, leider sind wir zu abgestumpft, um noch fühlen zu können. Ein unbekannter Spender hatte über Nacht unsere karge Redaktionszelle mit tropischen Pflanzen geschmückt. In allen Ecken wuchsen Schlingen, Efeu rankte sich um die Monitore. Wir wissen es nicht genau, vermuten aber, dass es die Mutterfirma war, um uns vor der Herbstverstimmung zu bewahren. Mittlerweile sind fast alle Pflanzen tot, und ihre Blätter liegen auf dem Teppichboden. Manchmal, abends, wenn niemand mehr da ist, sammle ich mit letzter Kraft die trockenen Blätter auf, damit die Putzfrau nicht auch noch traurig wird.

Dabei geht es mir heute vergleichsweise gut, ich darf ja über unsere Leiden schreiben. Ich schreibe extra langsam und extra viel, damit ich nicht zurück in den deprimierenden Kalender muss. Johannes zum Beispiel, er sitzt gleich neben mir, beobachte ich schon den ganzen Tag. Es ist immer das gleiche: zunächst klagt er über eine diffuse Müdigkeit, dann schlafen seine Beine unverhältnismäßig schnell ein, und schließlich sagt er mit leeren Augen: "Alles fühlt sich nach Depression an." So entsteht der Veranstaltungskalender, den die Benutzer dort draußen mit fröhlichen Klicks abrufen. In ihren Zimmern, die in warmen Pastelltönen gestrichen sind, damit sie sich auch in den Wintermonaten ihre mediterrane Lebensleichtigkeit bewahren.

Ach.

Noch so etwas, was mich traurig macht: die aktuellen Verkaufszahlen für Mario Barth. Aus drei ausverkauften Arenen à 4000 Besucher errechne ich, dass 12 Prozent der Trierer Bevölkerung zu Mario Barth geht. 12 Prozent! Ich denke dann immer: Camus, du ahnungsloser Schwaller. Du warst doch nie im Veranstaltungskalendergewerbe.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen