Montag, 24. Januar 2011

Daumen hoch!

Wir bei hunderttausend.de gefallen uns in der Rolle des technischen Vorreiters der Großregion: RSS-Feeds, iPhone-Apps, ein hauseigener Blog – wir wollen alles als Erster und am liebsten auch besonders schick. Da ist es selbstverständlich, dass wir natürlich auch eine Social-Network-Präsenz bei Facebook pflegen. So, wie alte Wirte um die Mittagszeit mit zittriger Kreideschrift den Mittagstisch auf die Tafeln vor ihrer Schänke schreiben, preisen wir dort liebevoll unsere Beiträge an der Pinnwand an. Schon klar: Ein Profil mit verlinkten Artikeln reicht heutzutage nicht mehr aus. Wenn man nicht immer wachsam ist, ergeht es einem so wie den inhabergeführten Eckkneipen, die nach und nach aus den Städten verschwinden und durch Vapiano ersetzt werden. Deshalb sind wir auch bemüht, über unsere Facebook-Präsenz eine noch höhere Leser-Blatt-Bindung zu schaffen. Kürzlich haben wir unseren 1000. Fan begrüßt, der dafür mit einem Abend in unserer Gesellschaft belohnt wird (ausführlicher Bericht folgt). Solch kleine Gesten sind uns wichtig, denn am meisten freut uns: unsere Leserschaft bekommt endlich ein Gesicht (ein hübsches!).

Wir können allerdings nicht über unsere Facebook-Freunde reden, ohne einen ganz Besonderen unter ihnen zu erwähnen. Der Nutzer X beschäftigt uns seit einigen Monaten, wir datieren den Beginn ungefähr auf Mitte November. Seitdem liked dieser Nutzer fast alles, was auf unserer Pinnwand erscheint: Selbst eher trockene Meldungen wie "Artothek der Tuchfabrik: Öffnungszeiten über die Feiertage", "Exhaus: Nothington Konzert abgesagt" und sogar traurige Neuigkeiten wie "Wirtshaus 'Zur Glocke' schließt am 31. März 2011".

Anfangs machten wir harmlose Witze, wenn das obligatorische Däumchen schon wieder unter einem Beitrag erschienen war. Nach einigen Wochen wurde es uns langweilig. "Wenn er alles liked, hat es dann überhaupt eine Bedeutung, dass er liked?", fragten wir uns manchmal resigniert, manchmal philosophisch. Diese Phase hielt nur kurz an. Ihr folgte, und hier befinden wir uns noch immer, die dritte Phase: Abhängigkeit. Wir haben uns an das Gefallen gewöhnt, werden unruhig, wenn es ausbleibt. Wir müssen dazu sagen, dass niemand von uns diesen Nutzer kennt, wir haben nicht einmal gemeinsame Facebook-Freunde. Theorien wie "Das ist besimmt ein Fake-Account der Geschäftsführung, um uns zu testen" mussten wir verwerfen, nachdem die Likes auch eintraten, während die Geschäftsführung mit uns Konferenzen abhielt. Auch wichtig: Dem Nutzer gefallen ausschließlich Beiträge, die noch nicht von anderen Nutzern geliked worden sind.

Wie überall, gibt es auch hier etwas zu lernen. Ich habe den Sachverhalt zum Anlass genommen, mich mal wieder umfassend in Brechts Radiotheorie einzuarbeiten. Nicht das Radio, sondern das Internet als Distributionsapparat – Natürlich ist auch das ist nicht der neueste Gedanke. Für mich ist aber der Nutzer X ist das Sinnbild des Hörers, der zum Mitspieler wird. Ich würde mir wünschen, dass er (und viele andere) in Zukunft den Sprung vom Liken zum Kommentieren schaffen, damit das schöne Gesicht unserer Community auch viele kluge Sachen sagen kann. Jeder wird zum Sender, alle machen mit! Die internationale Presse würde auf uns aufmerksam werden und Lettre International würde ein Aufsehen erregendes Interview mit dem Nutzer X drucken, aus dem auch wir endlich erfahren würden, was er uns die ganze Zeit sagen wollte.

Wenn der erste Staub sich gelegt hätte, wären wir nicht mehr nur technischer, sondern auch politischer, kultureller und geschichtsschreibender Vorreiter der Großregion, was ja auch in Ordnung wäre. Jetzt werden wir uns aber zunächst zurückziehen, um Wetten abzuschließen: über das Like oder Nicht-Like eines ganz besonderes Nutzers für diesen Beitrag.

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